22-01-2009 Beijing Rundschau
Im Rausch der Zahlen
Von Matthias Mersch

Auch unter den Deutschen, deren kollektives Selbstwertgefühl sich seit dem Ende des 2. Weltkriegs gerne am Wirtschaftsaufkommen misst, hat man inzwischen das trügerische Potential derartiger Statistiken erkannt, selbst wenn die Medien sich immer noch gerne in den Metaphern sportlichen Wettkampfs üben: vor rund einem Jahr hieß es noch in Bezug auf den „Exportweltmeistertitel“ in den Schlagzeilen entweder „Deutschland bleibt meisterlich“ oder auch schon als düstere Prognose „Deutschland verliert Weltmeister-Titel 2009 an China“. Statistische Daten greifen also mehr in das Bewusstsein ein als in die reale Wirtschaft. Bewusstsein aber schafft seinerseits Realitäten. Wird unser Handeln von falschem Bewusstsein geleitet, kann es zu einer fatalen Rückkoppelung kommen, etwa wenn wir sachlich Unhaltbares aus Statistiken lesen und unser Alltagsverhalten darauf abstimmen. Das nationale Ego mag sich ja davon geschmeichelt fühlen, dass die Welt „unsere“ Produkte nachfragt, aber dass deren Herstellung in der Regel mit einem großen Finanzbedarf und daher einem großen Hunger nach günstigen Krediten verbunden ist, was zu einer Politik niedriger Zinsen und hoher Liquidität zwingt, wird in der Regel verdrängt. Wer zugunsten einer hohen Exportrate die Entwicklung des Binnenmarkts vernachlässigt, wird spätestens während einer Rezession bestraft, wenn dem Einbrechen der Auslandsmärkte keine robuste Binnennachfrage entgegengestellt werden kann. In diesem Sinne sitzen China und Deutschland sowieso in einem Boot, während sich Japan und die USA in Zeiten der Krise auf einen erheblich umfangreicheren Inlandskonsum stützen können. Wenn inmitten einer Hochkonjunktur – wie in der Bundesrepublik Deutschland geschehen - fast ein Viertel aller Arbeitnehmer als Geringverdiener geführt werden, muss man sich fragen, ob sich die Ehre des Exportweltmeisters in greifbare Vorteile für das Alltagsleben seiner Bürger ummünzen lässt. Diese Frage stellt sich in noch schärferer Form für den Hirten aus einer der westchinesischen Provinzen. Ob und wie er am Boom Ostchinas partizipieren kann, hängt allein davon ab, in wieweit es Staat und Gesellschaft gelingen wird, das Wohlstandsgefälle durch einen tragfähigen Finanzausgleich zu beheben. Bei unvergleichlich besseren Ausgangsbedingungen ist diese Frage auch in der Bundesrepublik oft Gegenstand leidenschaftlicher Diskussionen zwischen den Bundesländern und der Bundesregierung. Aber auch auf der Ebene der Europäischen Union kommt es immer wieder zu kleinlichen Mäkeleien von Kritikern, die noch immer nicht verstanden haben, dass der erfolgreiche Ausgleich politischer, vor allem aber auch wirtschaftlicher Gegensätze die große Leistung und die Ursache für die fortdauernde Attraktivität der Gemeinschaft ist.

 

Übermächtige Abhängigkeiten der Wirtschaftsnationen

Die in der Statistik bewahrte Vorstellung vom Staat, der gewissermaßen den „Schatz“ des Bruttoinlandsprodukts ansammelt und bewahrt, erinnert an die Politik der absolutistischen Mächte im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts, die Adam Smith als Merkantilismus bezeichnet hat. Der Wohlstand eines Landes liege demnach in hohen Ausfuhren und niedrigen Einfuhren und der dadurch ermöglichten Anhäufung von Gold- und Silberreserven. Spätestens in Zeiten der Globalisierung hat diese Praxis als widerlegt zu gelten. An ihre Stelle ist die Theorie des Freihandels und die Lehre vom magischen Dreieck, dann vom magischen Viereck getreten: Vollbeschäftigung, stabiles Preisniveau, ausgeglichene Handelsbilanz und angemessenes Wirtschaftswachstum gelten seither als Garanten einer gesunden ökonomischen Ordnung. Nur wird man selten alle vier Faktoren einträchtig an einer Erhöhung des Wohlstands einer Gesellschaft werkeln sehen. So herrscht etwa seit Jahren ein auffallendes Ungleichgewicht zwischen dem Außenhandelsdefizit der USA und dem Wachstums ihrer Volkswirtschaft. Die Wirtschaft der Vereinigten Staaten ist heute in weiten Teilen fremdfinanziert, Bürger und Staat leihen sich an jedem Werktag der Woche eine Milliarde Dollar im Ausland, auch der Aktienmarkt des Landes hat in den letzten Jahren ungeheure Kapitalmengen angezogen. Was bei anderen Staaten unter vergleichbaren Bedingungen längst zum Staatsbankrott und einer massiven Rezession geführt hätte, schien die USA bisher nicht ernstlich berührt zu haben. Der Eindruck, ohne die USA sei ein Weltwirtschaftsgeschehen undenkbar, hält sich noch immer am Leben. Aber die Gesetze der Ökonomie sind auch für die USA nicht aufgehoben, und dem Übermut ungezügelter Spekulation mit den reichlich in die USA drängenden Kapitalströmen ist in diesen Wochen ein harter Schlag versetzt worden. So ließe sich darüber spekulieren, ob sich die Amerikaner vielleicht gerade noch rechtzeitig mit Barack Obama einen Präsidenten gewählt haben, der das Vertrauen des Auslands in die USA wiederherstellen oder zumindest die Kreditlinie der amerikanischen Wirtschaft verlängern kann.

1   2   >  

 
Kurze Nachrichten


Wirtschaft
Top-Services
Hotel
Routenplaner
Wechselkurs
Rent a car
City Apartments Vermietung
Reise durch China
Schreiben Sie an uns
Aboservice
Wetter
Über Beijing Review | Über Beijing Rundschau | Rss Feeds | Kontakt | Aboservice | Zu Favoriten hinzufügen
Adresse: BEIJING RUNDSCHAU Baiwanzhuanglu 24,
100037 Beijing, Volksrepublik China