18-09-2008 Beijing Rundschau
Milchskandal und das Vertrauen der Verbraucher
von Matthias Mersch

Die Äußerung des Parteisekretärs und stellvertretenden Gesundheitsminister Gao Qiang, man habe schnell gehandelt, scheint also mehr einem frommen Wunsch zu entspringen, als den Realitäten. Der Chef der obersten Aufsichtsbehörde für Lebensmittelsicherheit, Li Changjing, schätzt es stets, die Sicherheit von Lebensmitteln in Prozentzahlen auszudrücken: mochte nach seiner Rechnung letztes Jahr wenigstens "nur” ein Konsument von hundert durch chinesische Lebensmittel gefährdet sein, sind es seit diesem Mittwoch schon zwanzig: "Ungefähr 80 Prozent der überprüften Milchpulver sind in einwandfreiem Zustand.”

Der Einfluss Fonterras auf seinen Joint-Venture Partner Sanlu mag begrenzt sein, aber auch im ureigenen Haus scheint es Probleme zu geben: am 16. September veröffentlichte Fonterra China, eine hundertprozentige Tochter des neuseeländischen Stammhauses, eine Mitteilung über eine „freiwillige Rückrufaktion", die ein unter dem Markennamen ANMUM Materna vertriebenes kurioses Produkt betrifft: „prenatal milk", also eine Art „Vorgeburtsmilch". Ihre Einnahme wird schwangeren Frauen empfohlen, zu welchem Zweck, bleibt im Dunklen. Die rückgerufene Ware sei in Lizenz von Sanlu wahrscheinlich auf der Grundlage verseuchter Milch hergestellt und auf Chinas Festland vertrieben worden. Andere Artikel des Unternehmens seien von der Rückrufaktion nicht betroffen, da sie ausschließlich mit neuseeländischer Milch hergestellt worden seien.

Es lohnt sich, einen etwas genaueren Blick auf den Erzeuger „pränataler Milch" zu werfen. Fonterra ist ein ungewöhnliches Unternehmen: seit Dezember 2005 besteht das Joint-Venture mit Sanlu. Für rund 88 Mio. Euro haben sich die Neuseeländer in die Milch von Hebei eingekauft. Heute gilt Fonterra als weltgrößter Händler von Milchprodukten, das mit rund 5,6 Mrd. Euro umsatzstärkste Unternehmen Neuseelands hat sich zum Ziel gesetzt, mittelfristig 10 Prozent seines Umsatzes in China zu realisieren. Südamerika ist ein weiteres Feld seiner geschäftlichen Expansion. In letzter Zeit aber lief nicht alles so rund für das Unternehmen, das eine ungewöhnliche Geschichte hat: es ist eigentlich eine Kooperative von 11 000 milcherzeugenden Landwirten, die über ganz Neuseeland verteilt sind. Seit knapp einem Jahr gibt es heftig umstrittene Pläne, die Kooperative unter Wahrung gewisser Privilegien der Genossen in eine Aktiengesellschaft umzuwandeln. Schon Ende August, also vor der offiziellen Bekanntgabe des Milchskandals in China, wurde ein entsprechender Vorschlag von der Unternehmensleitung zurückgezogen, da keine Aussicht auf Zustimmung durch die Genossen bestand. Jetzt steht zu fragen, welche Auswirkungen der Skandal auf den Umbau von Fonterra haben wird. Ohne Börsengang werden die nötigen Mittel für eine weitere Expansion auf dem Weltmarkt fehlen.

Aber zurück nach China und zur Milchpanscherei, die überall und zu allen Zeiten in hoher Konjunktur gestanden ist: durch Melamin, eine Chemikalie, die in der Herstellung von Plastik, in Reinigungsmitteln und als Kunstharz Verwendung findet, lässt sich minderwertige oder verwässerte Milch enorm aufwerten: der im Melamin enthaltene Stickstoff täuscht einen hohen Proteingehalt des damit kontaminierten Materials vor. Die Milch gilt somit als hochwertig.

Im Frühjahr 2007 ist Melamin schon einmal auffällig geworden als Beimengung zu Hunde- und Katzennahrung, die aus China in die USA exportiert worden war. Auch in die Nahrungskette ist der Wirkstoff geraten, da eine Verfütterung an mehreren tausend Schweinen stattgefunden hat. Zudem muss man damit rechnen, dass die Substanz als illegale Beimengung zu Kraftfutter dient. Auch wenn sich die amerikanischen Behörden damals zunächst zurückhaltend zu den Gesundheitsrisiken durch Melamin äußerten, wurde ein Importverbot von Tiernahrung aus China verfügt, das sich durch den Tod etlicher Haustiere durch Nierenversagen als gerechtfertigt erwies. Dem üblichen Reflex der „Schadensbegrenzung" durch Zurückweisung eines Zusammenhangs mit dem eigenen Produkt folgte die chinesische Regierung auch damals. Am 29. April 2007 zitiert „USA Today" eine Verlautbarung des chinesischen Außenministeriums: „Es gibt keine eindeutigen Beweise dafür, dass Melamin in Zusammenhang mit der Vergiftung oder dem Tod von Haustieren steht."

In seinem Kommentar in der „China Daily" vom 15. September stellt der Journalist You Nuo die Wirksamkeit des Systems der Lebensmittelkontrolle in Zweifel und macht sich für eine Ergänzung der staatlichen Überwachungsmaßnahmen durch Nichtregierungsorganisationen stark: „Es sollte eine dritte Kraft der Qualitätskontrolle ins Leben gerufen werden, die durch unabhängige Experten, Verbraucherorganisationen und Industrieverbände gebildet wird. Sie sollte immer auf der Hut sein und direkte Kontakte zur landesweiten Presse unterhalten, damit Regierung und Gesellschaft rechtzeitig alarmiert werden können."

Es mangelt nicht an Gesetzen, Vorschriften und Ausführungsbestimmungen zur Lebensmittelsicherheit in China. Das System krankt vielmehr an unklar definierten Zuständigkeiten, überlappenden Kompetenzen und Schwerfälligkeit der Verwaltung. Allein auf der Ebene der Zentralregierung gibt es fünf Ministerien und Behörden, die jeweils einen Zipfel der Zuständigkeit für Fragen der Lebensmittelsicherheit in Händen halten. Während der Olympischen Spiele konnte für Beijing ein aufwändiges aber wirksames System der Lebensmittelüberwachung implementiert werden. Den Babys aus der armen Provinz Gansu und dem wohlhabenden Zhejiang hat dieses System nicht das Leben retten können.

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