17-12-2013
International
Lernen, die Nummer zwei zu sein
von Jon R. Taylor

Ist Amerika bereit, seine weltweite Vormachtstellung zu verlieren?

 

 

 

Kishore Mahbubani, Autor von „Die große Annäherung. Asien, der Westen und die Logik einer Welt" (The Great Convergence: Asia, the West and the Logic of One World"), stellte vier US-Politikern, zwei Republikanern und zwei Demokraten, die 2012 an einer von ihm geleiteten Diskussionsrunde beim Weltwirtschaftsforum in Davos teilnahmen, zwei Fragen: Erstens: „Wie sieht Amerikas Macht in Zukunft aus?" Zweitens: „Könnte sich Amerika daran gewöhnen, die Nummer zwei der Welt zu sein?"

Mahbubani zeigte sich geschockt, als er die gleichbleibenden Reaktionen der vier Politiker auf die beiden Fragen hörte: Amerika würde immer die Nummer eins bleiben. Mehr noch, keiner konnte sagen oder auch nur andeuten, dass die USA jemals die Nummer zwei sein würden. Ausgehend von diesen Antworten war für Mahbubani klar, dass „Amerika als Nummer eins der Welt eine heilige Kuh ist" .

Angesichts Barack Obamas Rede zur Lage der Nation im Jahr 2010 hätte Mahbubani, offen gesagt, nicht dermaßen überrascht sein sollen. Obama sagte: „Ich akzeptiere keinen zweiten Platz für Amerika." Auch wenn er und andere Politiker nicht gewillt sein mögen, den zweiten Platz zu akzeptieren, heißt das nicht, dass er nicht doch Realität werden wird. 2012 überholte China die USA und wurde die weltgrößte Handelsnation, wenn man das Export- und Importvolumen zugrundelegt. Dies ist ein Vorbote für künftige Entwicklungen: China wird die USA als größte Wirtschaftsmacht wahrscheinlich 2021 ablösen, wenn die KP Chinas ihr hundertjähriges Bestehen feiert.

Und wenn Hu Angang, Dekan des Instituts für Zeitgenössische Chinastudien, mit seinem neuen Buch „China 2030" Recht hat, wird Chinas Wirtschaft bis 2030 doppelt so groß wie die der USA und größer als die USA und Europa zusammen werden.

Vor rund einem Jahr stellte der Ecomonist ironisch fest, dass „die Idee, dass China die USA als größte Wirtschaftsmacht der Welt überholt hat, mit Sicherheit große psychologische Auswirkungen auf amerikanische Politiker und Bürger haben wird". Anmerkungen zur amerikanischen Vormachtstellung decken das gesamte politische Spektrum der USA ab und sind bezeichnend, vor allem, weil sie mit den „provinziellen Ängsten der amerikanischen Bevölkerung vor China spielen" – Ängste, die oft noch von den US-Medien und der Unterhaltungsindustrie, von demokratischer und republikanischer Seite, angeheizt werden. Das war offensichtlich während der US-Präsidentschaftswahlen 2012 so und das ist es auch heute im IS-Kongress. 

Viele von Amerikas politischen Anführern und Entscheidungsträgern scheinen sich willentlich in Widerwillen zu üben und weigern sich, die Realität zu akzeptieren, dass irgendwann innerhalb der nächsten fünf bis zehn Jahre China die USA einholen und die größte Wirtschaftsmacht der Welt werden wird. Aber möglicherweise ist die amerikanische Öffentlichkeit ihren Politikern und Politstrategen voraus und merkt, dass ein Wandel bevorsteht. Die Finanz-Website „The Street" befragte vor kurzem Amerikaner, welches Land zurzeit „die mächtigste Wirtschaftsmacht der Welt" sei. Das Ergebnis: 28 Prozent der Befragten wählten China, 59 Prozent entschieden sich für die USA. Die Umfrage thematisierte auch die Aussichten in fünf bis zehn Jahren. Das Ergebnis war aufschlussreich – und zeigte deutlich weniger Vertrauen in Amerikas Position. Bis 2018 oder 2020 werde China die Nummer eins sein, meinen 36 Prozent, nur 43 Prozent der Amerikaner glauben, dass die USA die „dominierende Wirtschaftsmacht" der Welt bleiben wird.

Obamas Nachfolger wird 2017 wahrscheinlich der erste US-Präsident seit dem Zweiten Weltkrieg sein, der nicht die größte Wirtschaftsmacht der Welt regiert. Und ein weiterer, negativer Meilenstein liegt vor den USA, denn Indiens Wirtschaft wird Prognosen der Standard Chartered und der OECD zufolge bis 2050 mächtiger als die der USA werden. Die Weltbank sagt außerdem voraus, dass der US-Dollar bis 2025 seine Dominanz verlieren wird, Dollar, Euro und Renminbi werden gleichberechtigt in einem globalen „Multi-Währungs-System" nebeneinander stehen. Um noch mehr Öl ins Feuer zu gießen, bemerkte Nobelpreisgewinner Robert Fogel, der vor ein paar Jahren über Außenpolitik schrieb, dass „China bis 2040 123 Billionen Dollar erwirtschaften wird, fast dreimal soviel wie der gesamte Planet im Jahr 2000... Der durchschnittliche chinesische Stadtbewohner wird dann doppelt so gut leben wie der Durchschnittsfranzose, da China sich von einem armen Land im Jahr 2000 zu einer superreichen Nation im Jahr 2040 gewandelt hat." Bis 2040 wird China 40 Prozent des weltweiten BPI erzeugen. Im Gegenzug sinkt Amerikas Anteil auf 14 Prozent. Die amerikanische Reaktion auf diese Aussicht lässt sich nur erahnen. 

Amerikaner sollten nicht überrascht auf die Aussicht, zur Nummer zwei zu werden, reagieren. Vor fast 20 Jahren erklärte das Buch „Chinas große Strategie: Entwurf einer Weltmacht" herausgegeben von Cai Xianwei, wie und warum China bis zum dritten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts die führende Macht der Welt werden würde. Seine Theorie: Die Grundlage für Chinas Aufstieg zur Weltspitze würde sein schnelles Wachstum und die Übernahme einer sozialistischen Marktwirtschaft sein.

Bei der Lektüre von Chinas 12. Fünfjahresplan, einem politischen Dokument des Staatsrats mit dem Titel „Entscheidung zur Beschleunigung der Entwicklung der strategischen Schwellenindustrien" aus dem Jahr 2010 und dem Plan für das Jahr 2011 der Staatlichen Kommission für Reform und Entwicklung wird schnell klar, dass sie alle in ziemlich einfacher Weise ausarbeiten, wie China die nächste Phase wirtschaftlicher Entwicklung und Wachstums durch die Förderung von alternativen Energien, Biotechnologie, innovativen Informationstechnologien, High-End-Produktion, modernen Materialen, Autos mit alternativem Kraftstoff und neuen Energietechnologien verfolgt.

Ist China bereits die führende Wirtschaftsmacht der Welt, die die USA abgesetzt hat? Das hängt davon ab, wen man fragt. Laut einer Umfrage des Pew Research Center lautet die Antwort „Ja", basierend auf der internationalen Wahrnehmung. D.h., Chinas Aufstieg sollte im Kontext seiner spezifischen Geschichte verstanden werden. China wird reicher, die chinesische Wirtschaft wird Amerika ziemlich bald überholen, aber der relative Wohlstand der USA ist ein Grund, warum China an dem Tag, an dem seine Wirtschaft weltweit die Nummer eins wird, nicht auch zum mächtigsten Land der Erde werden wird. Dieser Tag mag kommen, aber wahrscheinlich nicht bis 2020. Vielleicht werden die USA endlich erkennen, dass Chinas Aufstieg zur wichtigsten Wirtschaftsmacht Teil des Übergangs hin zu einem neuen Beziehungsmodell zwischen den Supermächten ist, das gegenseitigen Respekt fördert, die Zusammenarbeit sucht, eine Win-Win-Einstellung fördert und die Integration von Interessen vertieft.

Wenn China die USA am Ende um 2020 herum überholt, mag dies gut und gerne eine Art Sputnik-Moment in  Amerika erzeugen und das Land zu neuartigen Wirtschaftsinitiativen und Innovationsbemühungen anspornen. Oder es verursacht umgekehrt eine tiefe politische Krise mit fieberhaften Debatten und der Suche nach einem Sündenbock für den Verlust der Vormachtstellung. Ganz ehrlich, das muss kein Krisenmoment für die USA werden, wenn sie erkennen, dass die Welt sich von einer eurozentrischen, Atlantik-zentrierten zu einer Asien- und Indo-Pazifik-zentrierten Welt verändert hat. Trotz der neuen Asienstrategie der US-Regierung ist Amerika allgemein nicht auf den Wechsel in ein asiatisches Jahrhundert vorbereitet, das von China und anderen Nationen dominiert wird. Wie die USA den Wechsel auf den zweiten Platz verkraften, ist von großer Wichtigkeit für die künftigen chinesisch-amerikanischen Beziehungen und die Stabilität in der Welt.   

(Der Autor ist Vorsitzender des Fachbereichs Politikwissenschaften an der University of St. Thomas in Houston und Professor für Politikwissenschaften)