25-11-2011
Im Focus
Stockfisch oder Sardine? Eine schöne Jugend!
von Zhou Hualei und Liu Shengnan

Fortschreibung der Reportage von Bao Dan: „Immer mehr junge Leute verlassen die großen Städte" vom 6. August 2010 in der Beijing Rundschau

Nach drei Monaten in der Heimatstadt kann Zhang Yixuan das Kaff am Jangtse nicht mehr ertragen und kehrt nach Beijing zurück. Im Grunde wiederholt sich die Situation unter anderem Vorzeichen: Im September 2010 konnte er Beijing nicht mehr ertragen und kehrte ohne Bedenken der Stadt den Rücken.

Damals gab es in China gerade den Trend, die großen Städte zu verlassen. Im zweiten Halbjahr 2010 stiegen die Immobilienpreise in den Metropolen Beijing, Shanghai und Guangzhou wieder kräftig an. Auch die sonstigen Lebenshaltungskosten waren auf einem neuen Höhenflug. Nachdem viele Angestellte einige Jahre in großen Städten gelebt und gearbeitet hatten, entschieden sie sich zunehmend dafür, ihre ganze Hoffnung auf ein Leben in relativ kleineren Städten zu setzen. Aber Zhang trifft bei seiner Rückkehr gerade auf den gegenläufigen Trend. Mit einem Male heißt es wieder: „Nach Beijing, Shanghai und Guangzhou zurückkehren!"

Im Vergleich zu den meisten seiner Altersgenossen ist Zhang nach seiner Heimkehr in durchaus glückliche Umstände geraten. Da seine Eltern in der Heimatstadt hohes Ansehen genießen, standen ihm alle Türen offen. Er wurde von der lokalen Tabakbehörde fest angestellt, trotz der Tatsache, dass er nicht an der Eignungsprüfung für die öffentlich ausgeschriebene Stelle teilgenommen hatte. Das ist zwar eigentlich vorgeschrieben, aber Vitamin B macht es möglich, dass manch einer gleicher ist als andere. Der Behördenleiter sah großzügig über Formalitäten hinweg und sagte zu ihm: „Im nächsten Jahr nimm mal an der Prüfung teil. Du wirst sie bestimmt bestehen!"

Viele junge Chinesen, die heute um die dreißig sind und bereits in großen Städten gelebt und gearbeitet haben, dachten genauso wie Zhang Yixuan. Sie glaubten, dass Heimat gleichbedeutend sei mit niedrigeren Lebenshaltungskosten und einem überschaubaren Alltagsleben. „Beijing, Shanghai und Guangzhou verlassen"--- Dieser Slogan hallte ziemlich laut durch China.

 

Kommen und Gehen

Gerade als Zhang Yixuan wieder nach Beijing zurückkommt und ziemlich schnell einen Job findet, der ihm im Monat 4000 Yuan einbringt, nimmt in Liu Yin der Gedanke, Beijing endlich zu verlassen, immer konkretere Gestalt an.

Liu stammt aus der Provinz Jiangsu und wohnt jetzt am östlichen 6. Ring in Beijing. Jeden Tag nimmt er bei der U-Bahn-Station Guomao ein unlizenziertes Taxi, um nach Hause zu fahren. In Guomao, wo sich viele Firmen und Büros befinden, versammeln sich jeden Tag viele der „schwarzen Taxis", denn viele Angestellte wohnen wie Liu zwischen dem östlichen 5. und 6. Ring im Stadtbezirk Tongzhou. Die Gegend ist erst 1997 im Prozess der Urbanisierung eingemeindet worden. Früher gehörte Tongzhou zum Landkreis Beijing. Liu wohnt dort zur Miete. 

Liu arbeitet seit fünf Jahren in Beijing. Sein monatliches Einkommen liegt bei über 10 000 Yuan (1100 Euro). Damit zählt er zum gehobenen Mittelstand. Allerdings beklagt er sich darüber, dass er zwei Jahre lang keine Gehaltserhöhung bekommen habe. In den letzten Jahren hat er aufmerksam die Preisentwicklung auf dem Immobilienmarkt verfolgt. Das Ergebnis ist allerdings ernüchternd: Seine Ersparnisse sind immer weniger geworden, während die Wohnungspreise immer rasanter in die Höhe kletterten. Eine Drei-Zimmer-Wohnung innerhalb des 5. Rings ist jenseits seiner Möglichkeiten.

Keine Wohnung, kein Auto und keine Wurzeln in Beijing --- Die Idee, Beijing zu verlassen ist wie das Baby im Bauch seiner Ehefrau Tag für Tag größer geworden. Er selbst hingegen wurde immer trauriger. „Ich fühle mich ziemlich müde. Nichts kann mich mehr so recht begeistern. Die Hindernisse drohen mich zu zerstören", meint Liu, ein Vertreter der Generation der in den 80er Jahren geborenen Chinesen. 

Nach Daten, die im Rahmen der 6. Volkszählung erhoben wurden, ist Liu Yin Teil eines Millionenheeres von Binnenwanderern. Einer unter 7,045 Millionen. Tendenz steigend. Die meisten Zuwanderer in die großen Städte haben die gleichen Sorgen wie Liu, und diese Sorgen können kurzfristig nicht gelöst werden. Der Glücksindex dieser Neubürger weist nach unten.

Noch ärmer dran ist die „Ameisenklasse", ein neues Wort, das zur Bezeichnung für die wachsende Gruppe junger Menschen benutzt wird, die über einen hohen Bildungsabschluss, aber nur ein geringes Einkommen verfügt. Diese Gruppe weist ähnliche Eigenschaften wie Ameisen auf: Sie sind intelligent, aber schwach und vor allem sind sie zahlreich. Viele von ihnen müssen sich trotz ihrer Hochschulzeugnisse mit befristeten Jobs durchschlagen, als Versicherungsagenten oder Immobilienmakler. Die meisten sind arbeitslos oder nur teilzeitbeschäftigt. Ihr Durchschnittseinkommen beträgt selten mehr als 2000 Yuan pro Monat. Sie sind normalerweise zwischen 22 und 29 Jahre alt und wohnen in den Randgebieten der Städte, dort haben sich inzwischen improvisierte Siedlungen der „Ameisenklasse" gebildet. Nach einer Untersuchung des Soziologen Lian Si gibt es in Beijing mindestens 150 000 Angehörige der „Ameisenklasse".

 Tang Guo aus Shandong ist ebenfalls zum zweiten Mal in Beijing.

Zum ersten Mal kam sie am 1. März 2010 nach Beijing. Tang Guo stammt aus Jining in der Provinz Shandong. Nach dem Besuch der Oberschule hatte die junge Frau keinen Job gefunden. Mit einigen Schulfreunden ging sie also in die Hauptstadt. An Geld verfügte sie nur über die 2000 Yuan, die sie durch den Verkauf ihrer Schulbücher verdient hatte. 

Rasch stellte sie damals fest, dass Beijing nicht so schön ist, wie immer im Fernsehen gezeigt. Der Himmel ist nicht so blau. Bus und U-Bahn sind überfüllt. Sie bekam den Tipp, dass Suning, eine der größten Elektrohandelsketten Chinas, dringend Verkaufspersonal sucht. Man muss von 9 bis 22 Uhr arbeiten und kann monatlich 1500 Yuan verdienen. Ziemlich attraktiv bei dem Job ist, dass es Aufstiegschancen für tüchtige Mitarbeiter gibt. Sofort bewarb Tang sich um eine Stelle als Verkäuferin.

Tang Guo mietete einen Schlafplatz in einer Barackensiedlung. Gerade neben der Barackensiedlung liegt das in Beijing ziemlich bekannte Hotel „Venedig des Ostens". Es gibt nur ein Bett in Tangs „Zimmer". Wenn sie sich duschen will, muss sie ins öffentliche Bad gehen. Sieben Yuan kostet einmal Duschen. Die Lebensbedingungen in ihrer Heimat sind viel besser. Tangs Familie hat vor zehn Jahren selbst ein Haus gebaut. Es gibt einen großen Garten mit liebevoll gepflegten Blumenbeeten. Vor fünf Jahren wurden in den meisten Zimmern Klimaanlagen eingebaut. Aber Tang Guo will auf keinen Fall zurückkehren. „Nichts ist wichtiger als Freiheit!", sagt sie.

Freiheit hin oder her, um ihr Leben zu verbessern, fasste sie schließlich doch noch den Plan – sozusagen als letzten Ausweg – sich mit einem Beijinger zu verheiraten! 

Eine hilfsbereite Kollegin stellte ihr einen jungen Mann aus dem Stadtbezirk Daxing in Beijings Süden vor. Früher war Daxing ein Kreis der regierungsunmittelbaren Stadt Beijing, mittlerweile ist es ein Stadtbezirk. Die Daxinger sind also Beijinger geworden. Nicht nur das: Die ansässigen Bauern sind über Nacht reich geworden, weil sie sehr viel Geld von der Regierung als Entschädigung für den Abriss ihrer Häuser erhalten haben. Millionäre sind zahlreich in den Vororten Beijings, allerdings nicht, weil sie dort hingezogen wären, sondern weil sie dort geblieben sind. Nach dem ersten Treffen mit dem reichen Mann aus Daxing hat sie ihre Heiratspläne allerdings wieder fallengelassen. Angeberei und Hochnäsigkeit des Parvenüs sind ihr einfach zu sehr auf die Nerven gegangen.

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