09-01-2013
Im Focus
„Lebende Bücher“: Echte Menschen erzählen echte Geschichten
von Yuan Yuan

 

Das europäische Konzept der „lebendigen Bibliothek" erwacht in China zu neuem Leben.

 

 

Ein „lebendes Buch": Yuan Shanhan erzählt bei einer Human-Library-Veranstaltung an der Universität Nanjing von ihrer Arbeit als freiwillige Helferin in Afrika. (SUN CAN)

 

Ding Baoming nahm an, dass sie von der Istarsea-Bibliothek zu einer Lesung eingeladen worden war. „Was für eine originelle Idee", dachte sie noch. Aber als sie am 8. Dezember in der Bücherei im Beijinger Universitätsbezirk Haidian ankam, fand sie weder Romane noch andere Bücher vor. 

"Der Besitzer erzählte mir, dass es sich um eine "lebendige Bibliothek" handele, in der Leute ihre Geschichten mitteilen, statt Bücher zu lesen", erklärte Ding während ihrer "Lesung".

Ding, Jahrgang 1962, leidet an Kinderlähmung und sitzt im Rollstuhl, seit sie ein Jahr alt ist. Vor mehr als 20 Jahren eröffnete die autodidaktische Schneiderin ihren eigenen Laden. Heute ist die Präsidentin der Beijing Boshi Clothing Co. Ltd. Im vergangenen Juli reiste sie mit anderen behinderten Menschen nach London zu den Olympischen Spielen.

Mehr als 20 meist jüngere Leute warteten in der Bücherei auf Ding. Die 120 Quadratmeter große Bücherei ist eigentlich eine normale Wohnung. Ding erzählte ihre Geschichte, während es sich die „Leser" im Stehen oder Sitzen gemütlich machten, wo es ihnen gerade gefiel.

Ding präsentierte ein Video von ihrer Londonreise und erzählte ihnen die Geschichte ihres Unternehmens. Die Zuhörer konnten sie jederzeit unterbrechen, um über die vorgestellten Themen zu reden – die Olympischen Spiele, die Reise durch Europa und die Schneiderei. Eine Frau mit einer Gehbehinderung zeigte Ding Deko-Objekte, die sie mit Krücken erstellt hatte und beide diskutierten über Detailfragen beim Schneidern von Kleidung für behinderte Menschen.

"Das Erlebnis in der Bücherei war sehr entspannend und hat Spaß gemacht", erklärte Ding am Schluss. "Ich will an mehr solchen Veranstaltungen teilnehmen und auch meinen Freunden empfehlen, diese Bibliothek zu besuchen."

 

 

Lebende Bücher

 

 

Erstes Kennenlernen: Lei Wanfeng (r.) heißt einen Leser in seiner "Me Library", einer "Lebendigen Bücherei", die er am 1. Mai in Shanghai gründete, willkommen. (LAI XINLIN)

 

"Ich glaube, jeder hat eine Geschichte zu erzählen", sagt Li Xingning (29), Gründerin und Inhaberin der Istarsea-Bibliothek.

Vor drei Jahren veröffentlichte Li ihr Gründungsprogramm für einen Club, in dem sich Leute treffen und ihre Geschichte erzählen sollten bei www.douban.com, einer chinesischen Social-Network-Seite. Schon bald danach machten mehrere Leute ehrenamtlich mit.

In den ersten zwei Jahren hatte der Club keinen festen Treffpunkt. Der bescheidene Buchsalon kam an verschiedenen Örtlichkeiten zusammen und entwickelte sich allmählich zu einer Art mündlich überlieferter Tradition.

"Erst im vergangenem Jahr erzählte uns ein Journalist, dass das, was wir tun, ziemlich genau einer "lebendigen Bücherei" entspricht", sagt Li.

„Lebendige Büchereien" entstanden im Jahr 2000 in Dänemark. Ihr Ziel war es, Vorurteile abzubauen sowie Toleranz und Verständnis durch Dialog zu fördern. Die „Bücher" einer „lebendigen Bücherei" sind lebende Menschen, die sich anbieten, ihre Geschichten mit den „Lesern" zu teilen. Die Idee verbreitete sich seitdem in mehr als 45 Länder in aller Welt.

Li beschloss dann, die erste „lebendige Bücherei" in Beijing zu gründen. „Meine Vorstellung von einem ,Bibliothekar´ besteht nicht nur darin, Bücher auf Regalen anzuordnen, sondern Leser dazu zu bringen, sich zusammen hinzusetzen und miteinander zu sprechen", sagt sie. 

Um dieses Ziel zu erreichen, nahm Li ein Jahr Auszeit von ihrer Arbeit als Architektin und verbrachte ihre Zeit damit, ihre Traumbücherei zu finden und zu dekorieren. „Die Leiter, auf der ich die Wände strich, ist immer noch in der Bücherei, jetzt allerdings nur als Dekoration", erzählt Li.

Die Bücherei öffnete am 25. Dezember 2011 mit sechs „lebenden Büchern".

Eins der ersten "lebenden Bücher" der Istarsea-Bibliothek war Yu Shi. Der 25-Jährige gab seinen Job als Techniker einer IT-Firma in Beijing auf und reiste von der Provinz Yunnan im Südwesten Chinas nach Beijing. Seinen Lebensunterhalt verdiente er sich mit selbstgemachten Postkarten und Straßenmusik.

"Ich erzähle meine Geschichte, um mehr Leute dazu zu ermutigen, ihre Träume zu verfolgen", sagt Yu. „Ich will ihnen mitteilen, dass, wenn man einmal seine Komfortzone verlassen hat, eine Schönheit im Leben finden kann, die man sich niemals hätte vorstellen können."

In den vergangenen Jahren sind „lebendige Büchereien" in China wie Pilze aus dem Boden geschossen.

Han Lian, eine Absolventin der Nanjing Normal Universität (NJNU) in der Provinz Jiangsu in Ostchina, lernte das Konzept der „lebendigen Bücherei" 2005 als Austauschstudentin in Hongkong kennen.

Nach ihrer Rückkehr an die NJNU eröffnete Han einen Buchladen auf dem Campus und versuchte, für den Gedanken der „lebendigen Bücherei" zu werben, aber es funktionierte nicht, bis sie 2007 ihren Abschluss machte.

Trotz aller Rückschläge gab Han nicht auf. Im März 2012 realisierte sie drei erfolgreiche Human-Library-Veranstaltungen in Chengdu, der Hauptstadt der Provinz Sichuan.

Im vergangenen Mai schrieb Han einen Brief an Song Yongzhong, den Präsidenten der NJNU, und schlug vor, zum 110. Gründungstag der Universität ein weiteres Human-Library-Event zu organisieren.

Mit Songs Unterstützung lud Han am 15. September elf "lebende Bücher" zu einem Treffen mit Studenten der NJNU ein. Die Veranstaltung erwies sich als voller Erfolg.

Beim zweiten Event dieser Art in der NJNU nahmen am 29. November vier „lebende Bücher" teil.

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