03-07-2014
China Reportage
Ball im Aus: Warum die Fußball-WM ohne China stattfindet
von Bai Shi

China ist ein fußballverrücktes Land. Aber die Nationalmannschaft konnte sich nicht für die Teilnahme bei der diesjährigen WM in Brasilien qualifizieren. Die Gründe dafür sind vielfältig.

 

Public Viewing: In einer Bar in Haikou, der Hauptstadt der Provinz Hainan, schauen Fans am 13. Juni um Mitternacht das Eröffnungsspiel der Fußball-WM CFP

Der Anstoß zum FIFA-World Cup am 13. Juni in Brasilien hat die Leidenschaft chinesischer Fußballfans aller Altersstufen wieder zum Kochen gebracht, obwohl Chinas Nationalmannschaft nicht zu den 32 WM-Teilnehmern gehört. Die Elf schied bereits 2011 bei der regionalen Qualifikationsrunde in Asien aus.

Für die meisten chinesischen Fans ist es zu teuer, ins Gastgeberland Brasilien zu reisen und die Spiele dort zu sehen. Trotz der elfstündigen Zeitverschiebung schauen aber viele die Spiele live im Fernsehen, d.h. in Beijing ist es Mitternacht oder später. So oder so, die Zeitverschiebung war noch nie ein Hindernisgrund für leidenschaftliche Fans, die lieber in Echtzeit jubeln wollen.

Insgesamt 64 Spiele finden während des einmonatigen World Cups statt.  Um die elektrisierenden, spannenden Partien um Mitternacht oder danach zu gucken, lassen sich viele Zuschauer Entschuldigungen einfallen, um am nächsten Tag später zur Arbeit kommen zu können. Einige greifen zu extremeren Methoden, wie Urlaub zu nehmen, Ärzte um einen Gelben Schein zu bitten oder gar gefälschte Atteste im Internet zu kaufen. Ein echter Hardcore-Fan kündigte sogar seinen gut bezahlten Job, um während der WM nicht durch lästige Arbeit abgelenkt zu werden, berichtete vor kurzem die Xinan Evening News in der Provinz Anhui.

 

Millionen schalten ein zur „Riozeit"

Li Yao (32), ein Landwirt aus Beijing, ist so ein begeisterter WM-Gucker. Er hat seine Arbeits- und Ruhezeiten an die Rio-Zeit angepasst, um das Sportereignis besser verfolgen zu können. „Ich habe eine flexible Arbeit verglichen mit Büroangestellten und ich habe mir im Voraus einen Arbeitsplan aufgestellt", erzählte er der Beijing Review.

„Während der Turnierphase gibt es drei oder vier Spiele, die von Mitternacht bis in den frühen Morgen stattfinden. Ich schaue jede Nacht zwei Spiele, zwischendurch mache ich ein Nickerchen und schlafe dann am Morgen aus. Nachmittags und abends arbeite ich", sagt Li. Als Single müsse er sich auch keine Klagen einer genervten Ehefrau anhören, scherzt er.

Seit seiner Kindheit liebe er Fußball, sagt Li. Er war Mitglied in der Schulmannschaft und nahm oft an der Fußballliga der Mittelschulen in Beijing teil. Der Sport ist zu einem Teil seines Lebens geworden.

Weil in diesem Jahr keine chinesische Mannschaft an der WM teilnimmt, spielt die Nationalität für chinesische Fans keine Rolle mehr, sie feuern die Teams aus Brasilien, Argentinien, Italien, Deutschland oder England an, die mittlerweile zahlreiche Anhänger gewonnen haben.

Li ist ein großer Fan der italienischen Mannschaft. Er erinnert sich, wie er 2006 seine erschreckten Eltern aus dem Schlummer riss, weil er den WM-Sieg der Italiener bejubelte. Es mache mehr Spaß, die Spiele live mit anderen Fans auf der Welt zu schauen, sagt er.

„Meine Arbeits- und Schlafenszeiten sind auf den Kopf gestellt. Nachdem ich die Spiele um Mitternacht gesehen habe, fühle ich mich kaputt. Ich werde mich erholen, wenn die Spiele zu Ende sind und mich wieder auf Beijinger Zeit umstellen."

Auch die Medien sind gefesselt von der Fußball-WM. Hunderte chinesischer Reporter seien zur Berichterstattung nach Brasilien geflogen, berichtet die Nachrichtenagentur Xinhua.

CCTV, Chinas größter Fernsehsender, hat sich die exklusiven WM-Übertragungsrechte für China gesichert. Der Sportkanal CCTV 5 werde insgesamt 800 Stunden live von allen 64 Spielen berichten, erklärte Programmdirektor Jiang Heping kürzlich gegenüber Xinhua. Der Sender hat sich gut vorbereitet: Er wird täglich die Spiele im Fernsehen, im Internet und auf Mobiltelefonen live übertragen und Videoanimationen, Spielerinterviews und Expertenanalysen zeigen.

In diesem Monat befinden sich 100 Mitarbeiter des Senders - Reporter, Kameramänner, Techniker - in verschiedenen Städten Brasiliens. Sie sollen nach Hintergrundgeschichten suchen, den Zuschauern ein umfassendes Bild des Landes, seiner Städte und seiner Liebe zum „futbol" liefern. „Abgesehen von den Spielen selbst wird das Training der Teams live übertragen, für uns eine Premiere bei einer WM", sagt Jiang.

Die harte Arbeit hat dem Sender außergewöhnlich gute Quoten beschert. Nach Statistiken von AC Nielsen, einem internationalen Marktforschungsunternehmen, erreichte die Liveübertragung und die Wiederholung des Eröffnungsspiels zwischen Brasilien und Kroatien am 13. Juni 1,32 Prozent in den Ratings. Das heißt, dass rund 46 Millionen Chinesen das Spiel im Fernsehen sahen. 6 Millionen Chinesen verfolgten es auf CNTV, dem Online-Ableger von CCTV.

 

Chinas WM-Traum auf der Strafbank

Während der WM-Ball rollt, taucht eine Frage immer wieder auf: Wann wird China wieder an einer Weltmeisterschaft teilnehmen können?

Das erste und letzte Mal, dass sich ein chinesisches Team qualifizierte, war 2002, als Japan und Südkorea Veranstalter der WM waren. Dank Bora Milutinovic, dem damaligen Trainer der chinesischen Nationalelf, war auch China unter den 32-Teilnehmerländern. Die Fans verehrten ihn als „magischen Trainer". Aber Chinas Glück währte nicht lang, das Team schied aus, ohne ein einziges Spiel gewonnen und ein einziges Tor erzielt zu haben.

Danach begann der alte Teufelskreislauf von vorn. Nach 2002 versuchte China, sich immer wieder für die WM zu qualifizieren - und scheiterte. Vor kurzem verbuchte die Nationalelf sogar eine ganze Reihe an Negativrekorden. So fiel China im FIFA-Worldranking im März auf  Position 109, in Asien belegt es nur Rang 13. 2013 wurde die Mannschaft in einem Freundschaftsspiel gegen Thailand mit 1:5 geschlagen. Die Niederlage war eins der demütigendsten Ergebnisse für den chinesischen Fußball und führte zur Entlassung des damaligen Nationaltrainers, des Spaniers José Antonio Camacho.

Viele führten die Niederlage auf die Fehler Camachos zurück, er war bereits der sechste ausländische Coach innerhalb weniger Jahre.(Der deutsche Coach Klaus Schlappner war der erste ausländische Coach  zwischen 1992-1994.) Camacho wurde seit 2011 hart von den Fans kritisiert, als er es nicht schaffte, das Team für die WM 2014 zu qualifizieren. Ausländische Trainer tragen oft die Last der Erwartungen eines ganzen Landes, und diese Erwartungen wiegen schwer. Dennoch, kein ausländischer Coach, außer Milutinovic, hat größere Erfolge mit Chinas Nationalmannschaft erzielt.

Am 26. Februar dieses Jahres, wurde der Franzose Alain Perrin als neuer Trainer der Nationalelf verpflichtet. Seine Mission ist die Teilnahme Chinas am AFC Asian Cup 2015 in Australien. 

Einige Sportexperten meinen, dass man die Spieler selbst für ihre schwachen Leistungen zur Verantwortung ziehen sollte. Chinesische Spieler müssten lernen, einen unbezähmbaren Geist auf dem Feld zu entwickeln, da das Spiel viel abverlange, körperlich und psychisch.

In seinem letzten Interview mit den chinesischen Medien erklärte Milutinovic, dass ein Schlüssel zur Stärkung der Nationalmannschaft darin liege, mehr Menschen für die Ausübung dieses Sports zu begeistern, ihnen ein besseres Training zu bieten und mehr Spiele gegen Teams aus anderen Ländern zu veranstalten.

 

Skandalträchtige Liga

„Viele der Probleme im chinesischen Fußball haben ihren Ursprung im chinesischen Fußballverband (CFA), dem wichtigsten Fußballorgan des Landes, und der Chinese Super League, der wichtigsten nationalen Profiliga", sagte Yan Qiang, ein erfahrener Fußball-Kommentar, der Southern Weekly. 

In diesem Jahr wird die heimische Profiliga 20 Jahre alt. Es gelang nicht, aus ihr ein starkes Nationalteam zu formen, und beinahe zerstörte sie den Ruf des chinesischen Fußballs durch eine ganze Reihe von Skandalen. Der ehemalige CFA-Chef, Xie Yalong, wurde wegen der Annahme von Bestechungsgeldern in Höhe von mehr als 1,36 Millionen Yuan während seiner Amtszeit von 2005 bis 2008 angeklagt. Sein Nachfolger Nan Yong wurde beschuldigt, 1,19 Millionen Yuan Bestechungsgelder entgegengenommen zu  haben. Am Ende wurden Xie und Nan, zwei der prominentesten Figuren im chinesischen Fußball, im Juni 2012 zu einer Gefängnisstrafe von je 10,5 Jahren verurteilt. 

Eine Reihe weiterer wichtiger Personen des chinesischen Fußballs, einschließlich Schiedsrichter, Nationalspieler und eine Handvoll Vereinsmanager, sitzen ebenfalls wegen Bestechlichkeit und illegaler Spielwetten im Gefängnis.

„Der Kampf gegen die Korruption im chinesischen Fußball ist eine harte und langwierige Aufgabe", erklärte der damalige CFA-Chef Wei Di 2011, als die Skandale in der Öffentlichkeit bekannt wurden. Lange wurde die CFA wegen mangelnder Transparenz und Überwachung kritisiert. Nach den Skandalen lud die CFA Fans, Anwälte und Journalisten zu den Spielen ein, um die Supervision der Regierungsorganisation zu verbessern.

Trotz marktorientierter Reformen habe es die CSL nicht geschafft, die Wettbewerbsfähigkeit der Teams zu verbessern, erklärte Chen Yuyu, außerordentlicher Professor für Wirtschaftswissenschaften an der Universität Peking. Chen erforscht seit Jahren Chinas Fußballszene. 

Er behauptet, dass die CFA keine gerechte Interessenverteilung für die CSL schuf, deshalb mussten Fußballvereine ihre Positionen und Ticketeinnahmen auf jede mögliche Weise schützen. Vor den Spielen florierte daher in den vergangenen Jahren das Geschäft auf dem Schwarzmarkt.

Um die CSL zu verändern, müsse die CFA Reformen durchführen und ein transparentes und faires Umfeld für chinesische Ligen und Spieler aufbauen, erklärt Yan, der erfahrene Sportreporter.

 

 

Fußballspaß: In der Mittelschule Nr. 18 in Beijing trainieren die Spieler des Silver Tide Fußballvereins am 19. Juni das Dribbeln (Foto von Wei Yao)

Die nächste Generation auf dem Spielfeld

Staatspräsident Xi Jinping formulierte 2011 drei Wünsche für den Fußball: China solle die WM-Teilnahme schaffen, eines Tages selber die WM ausrichten und am Ende die begehrte Trophäe gewinnen.

Es sollte bei jungen Sportlern mehr Werbung für Fußball gemacht werden, forderte Xi im März, als er sich eine Auszeit von seinem ersten Staatsbesuch in Europa nahm, um das deutsch-chinesische Freundschaftsspiel der Fußball-Junioren in Berlin anzusehen.

Viele sind der Ansicht, dass jüngere Spieler der Schlüssel zur Wiederbelebung des chinesischen Fußballs sein könnten. Der gegenwärtige Stand der Dinge gibt aber wenig Anlass zu Optimismus. Trotz hoher Zuschauerzahlen bei der WM nahm die Zahl der aktiven Spieler stark ab. Von 1990 bis 1995 gab es 650.000 registrierte Spieler in China. 2007 lag diese Zahl nur noch bei 30.000. In den 1990er Jahren gab es 4300 Fußballtrainingszentren im Land, 2007 waren es nur noch 20, berichtete die National Business Daily.

Glücklicherweise steige die Zahl der Studenten, die Fußball spielen, im Dezember 2012 seien es 190.000 gewesen, so Liu Peng, Leiter der General Administration of China Sports. Seiner Ansicht nach muss China härter daran arbeiten, die Fußballförderung in den Schulen zu erleichtern und Fußball für Kinder zugänglicher zu machen.

Gao Chan, ein 47-jähriger Fußballtrainer, kümmert sich seit 1996 um die Sportförderung bei Kindern. Seit seiner Kindheit spielt er selber Fußball. Am Ende konnte er seinen festen Job aufgeben und den Yinchao-Fußballverein in Zusammenarbeit mit der Mittelschule Nr. 18 eröffnen. Die meisten seiner Schüler sind zwischen fünf und 13 Jahre alt.

„Ich liebe Fußball. Ich hoffe, dass Kinder so ihre Gesundheit verbessern und durch den Sport den Geist des Teamworks lernen", erklärte er der Beijing Review den Sinn seines Vereins. Während der Misserfolge der chinesischen Liga musste aber auch er feststellen, dass das Interesse an seinem Verein nachließ. „Vor einigen Jahren gab es nur eine Handvoll Kinder, die in meinem Verein Fußball spielen lernen", sagt er.

„In China gibt es kein System für die Nachwuchsförderung im Fußball. Ich mache mir oft über die Zukunft meiner Schüler Sorgen. Wenn sie ihr Training in meinem Verein beendet haben, wollen einige Profispieler werden. Aber viele Sportler aus Arbeiterfamilien könnten sich teure Trainings in einem Club der Liga nicht leisten", erzählt er.

Heute erhoffen sich Eltern und Kinder meist keine Karriere als Profifußballer. „Sie wollen einfach, dass ihre Kinder Spaß am Sport haben", meint Gao.

„Wenn mehr talentierter Nachwuchs im Fußball aktiv wird, kann sich Chinas Liga besser entwickeln, es kann eine starke Nationalmannschaft aufgebaut werden, die am Ende am World Cup teilnimmt. Es ist wie der Bau einer Pyramide. Ohne ein breites Fördersystem an der Basis können wird die Spitze nicht erreichen", resümiert Gao.